1. Sicherheit als Grundlage für Leistung, Vielfalt und Wohlbefinden
In modernen Organisationen wird zunehmend erkannt, dass die Gesundheit der Mitarbeitenden weit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit. Sie hängt eng mit sozialen, psychologischen und kulturellen Faktoren zusammen – insbesondere mit dem Gefühl, am Arbeitsplatz sicher, respektiert und wertgeschätzt zu sein.
Das Konzept der psychologischen Sicherheit (psychological safety), geprägt durch die Harvard-Forscherin Amy C. Edmondson (1999), beschreibt die gemeinsame Überzeugung in Teams, dass niemand für das Einbringen von Ideen, Fehlern oder Bedenken bestraft oder herabgesetzt wird. In einer solchen Umgebung fühlen sich Mitarbeitende befähigt, authentisch zu handeln, Risiken einzugehen und Verantwortung zu übernehmen – zentrale Voraussetzungen für Lernen, Innovation und Gesundheit.
Gerade im Kontext von Diversity und Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) spielt psychologische Sicherheit eine Schlüsselrolle. Denn Vielfalt kann ihr Potenzial nur dann entfalten, wenn Menschen unterschiedlicher Hintergründe sich frei äußern und als Teil einer wertschätzenden Gemeinschaft erleben. Wo dieses Vertrauen fehlt, entstehen Unsicherheit, Stress und psychische Belastungen – mit direkten Auswirkungen auf Gesundheit, Motivation und Leistungsfähigkeit.
Ein wissenschaftlich fundiertes und praxisorientiertes BGM muss deshalb psychologische Sicherheit als strategischen Bestandteil begreifen – nicht als „Soft Skill“, sondern als organisationalen Gesundheitsfaktor.
2. Theoretischer Hintergrund: Was bedeutet psychologische Sicherheit?
2.1 Ursprung des Konzepts
Das Konzept der psychologischen Sicherheit geht auf Amy Edmondsons Forschungsarbeiten in den 1990er-Jahren zurück. In einer Studie zu Teamfehlern im Krankenhaus entdeckte sie ein scheinbares Paradox: Die leistungsstärksten Teams meldeten mehr Fehler als andere. Nicht, weil sie schlechter arbeiteten, sondern weil sie sich sicher genug fühlten, Fehler offen anzusprechen.
Edmondson definierte psychologische Sicherheit als „gemeinsame Überzeugung der Teammitglieder, dass das Team ein sicherer Ort für zwischenmenschliche Risiken ist“. Dieses Vertrauen bildet die Grundlage für Kooperation, Lernbereitschaft und Innovation.
Das Konzept baut auf früheren Ansätzen von William Kahn (1990) auf, der zeigte, dass psychologische Sicherheit eine von drei Bedingungen für „engagement at work“ ist – neben Sinnhaftigkeit und Verfügbarkeit.
2.2 Verbindung zur Selbstbestimmungstheorie
Die Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) liefert eine psychologische Erklärung: Menschen benötigen drei Grundbedürfnisse, um sich gesund und motiviert zu fühlen:
- Autonomie – das Gefühl, selbstbestimmt handeln zu können,
- Kompetenz – das Gefühl, wirksam zu sein,
- soziale Eingebundenheit – das Gefühl, dazuzugehören.
Psychologische Sicherheit stärkt genau diese drei Bedürfnisse: Sie erlaubt authentisches Handeln (Autonomie), fördert aktives Mitgestalten (Kompetenz) und schafft Zugehörigkeit (soziale Eingebundenheit). Damit wirkt sie als mentale Gesundheitsressource im Sinne der Salutogenese (Antonovsky, 1997).
3. Psychologische Sicherheit als Gesundheitsfaktor
Zahlreiche Studien belegen den engen Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und mentaler wie körperlicher Gesundheit:
- Mitarbeitende mit hoher psychologischer Sicherheit berichten signifikant weniger Stress- und Burnout-Symptome (Baer & Frese, 2003).
- Teams mit ausgeprägtem Vertrauen zeigen geringere Fehlzeiten und höhere Arbeitszufriedenheit (Frazier et al., 2017).
- Fehlende psychologische Sicherheit hingegen erhöht das Risiko für chronischen Stress, Rückzug, innere Kündigung und psychosomatische Beschwerden.
Aus Sicht des BGM lässt sich festhalten: Psychologische Sicherheit ist ein präventiver Schutzfaktor, der die Resilienz der Mitarbeitenden stärkt und die Gesundheitskosten langfristig senkt.
4. Psychologische Sicherheit als Grundlage von Diversity und Inklusion
Vielfalt im Unternehmen bedeutet, dass Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kulturen, Altersgruppen, Geschlechtern, körperlichen Voraussetzungen oder sexuellen Orientierungen zusammenarbeiten. Diese Diversität birgt enormes Potenzial – aber auch Spannungen.
4.1 Unterschied als Ressource – oder Risiko
Ob Vielfalt zu Innovation oder zu Konflikten führt, hängt entscheidend von der Teamkultur ab.
- In Umgebungen mit hoher psychologischer Sicherheit wird Differenz als Bereicherung erlebt. Unterschiedliche Perspektiven fördern Lernen, Reflexion und Problemlösung.
- Fehlt Sicherheit, führen dieselben Unterschiede zu Misstrauen, Rückzug oder Schweigen – und damit zu psychischer Belastung und Exklusion.
4.2 Psychologische Sicherheit als Inklusionsvoraussetzung
Inklusion ist mehr als Diversität: Sie bedeutet, dass sich alle Mitarbeitenden gleichwertig und akzeptiert fühlen.
Psychologische Sicherheit ist dafür die Voraussetzung.
Denn nur wer sich sicher fühlt, kann authentisch sprechen, Emotionen zeigen und Grenzen kommunizieren – ohne Angst vor Abwertung.
Ein inklusives, gesundheitsförderliches Arbeitsklima entsteht also dort, wo die Organisation aktiv Vertrauen, Offenheit und Wertschätzung kultiviert.
5. Psychologische Sicherheit im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM)
Das BGM in deutschen Unternehmen zielt traditionell auf körperliche Gesundheit, Ergonomie und Prävention ab. Doch die zunehmende psychische Belastung in der Arbeitswelt macht deutlich: Gesundheit entsteht vor allem durch ein vertrauensvolles, lernförderliches und angstfreies Arbeitsumfeld.
Psychologische Sicherheit kann daher als vierter Baustein des BGM verstanden werden – neben Prävention, Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz.
5.1 Führungsverhalten
Führungskräfte sind die wichtigsten Multiplikatoren psychologischer Sicherheit. Studien zeigen:
- Mitarbeitende, die von ihren Vorgesetzten empatisch, unterstützend und transparent geführt werden, berichten signifikant geringere Stresslevel (Detert & Burris, 2007).
- Autoritäre oder sanktionierende Führungsstile hingegen erhöhen das Risiko für Burnout, Angst und Rückzug.
Ein gesundheitsorientiertes Führungsverständnis setzt auf Dialog, Fehlerkultur und Vertrauen – nicht auf Kontrolle.
5.2 Kommunikation und Feedback
Offene Kommunikation stärkt Sicherheit. Teams profitieren, wenn:
- Feedback lösungsorientiert statt bewertend erfolgt,
- Fehler als Lernchance behandelt werden,
- und Mitarbeitende Bedenken frei äußern dürfen, ohne Sanktionen zu befürchten.
Diese Haltung lässt sich durch Schulungen, Supervisionen und Teamcoachings im BGM verankern.
5.3 Teamkultur und Fehlerfreundlichkeit
Eine gelebte Fehlerkultur ist ein zentraler Indikator psychologischer Sicherheit. Laut einer Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA, 2022) haben 61 % der Beschäftigten in Deutschland Angst, Fehler offen anzusprechen. Diese Angst ist ein massiver Stressor.
BGM kann hier ansetzen, indem es Team-Reflexionsformate, Health Circles oder moderierte Austauschforen etabliert, in denen Fehler, Belastungen und Bedürfnisse besprechbar werden.
6. Empirische Erkenntnisse zur psychologischen Sicherheit in deutschen Unternehmen
- Die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA, 2021) zeigt: Teams mit hohem Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung sind um 35 % produktiver und melden 40 % weniger Fehltage.
- Eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK, 2020) belegt, dass psychologische Sicherheit das Risiko für psychische Erkrankungen deutlich senkt – insbesondere in Kombination mit fairer Führung.
- Das iga.Report 44 (2023) weist nach, dass Unternehmen mit einer angstfreien Kommunikationskultur geringere Fluktuationsraten und höhere Mitarbeiterbindung verzeichnen.
Die Evidenz ist eindeutig: Psychologische Sicherheit ist ein Schlüsselindikator für gesundes Arbeiten.
7. Strategien zum Aufbau psychologischer Sicherheit
- Transparente Kommunikation:
Führungskräfte sollten Entscheidungen, Ziele und Veränderungen offen erklären. Transparenz schafft Vertrauen. - Fehlerkultur fördern:
Fehler werden systematisch analysiert, nicht sanktioniert. Wichtig ist: Fehler sind Daten – keine Defizite. - Partizipation ermöglichen:
Mitarbeitende in Entscheidungsprozesse einbinden, ihre Perspektiven aktiv einholen. - Achtsamkeit und Empathie trainieren:
Schulungen zu emotionaler Intelligenz und achtsamer Kommunikation fördern Verständnis und Verbindung. - Team-Rituale etablieren:
Regelmäßige Check-ins, Reflexionsrunden oder „Stimmungsbarometer“ erhöhen Offenheit und Zugehörigkeit. - Diversität sichtbar machen:
Unterschiedliche Perspektiven aktiv einladen – z. B. durch Mentoring-Programme, interkulturelle Teams oder Diversity-Ambassadors. - BGM und Führung verzahnen:
Psychologische Sicherheit sollte in Gesundheitsberichte, Mitarbeitergespräche und Führungskräftetrainings integriert werden.
8. Handlungsempfehlungen für das BGM
Ein modernes BGM kann psychologische Sicherheit gezielt verankern, indem es:
- Gesundheitsindikatoren um psychologische Dimensionen ergänzt (z. B. Vertrauen, Zugehörigkeit, Offenheit).
- Führungstrainings zu Kommunikation, Empathie und Fehlerkultur anbietet.
- Teamworkshops zur Förderung von Vertrauen und Feedbackfähigkeit durchführt.
- Gesundheitszirkel nicht nur für körperliche, sondern auch psychische Themen etabliert.
- Evaluationstools einsetzt, die das subjektive Sicherheitsgefühl messen (z. B. Edmondson’s Psychological Safety Scale).
9. Fazit: Psychologische Sicherheit als Fundament gesunder Organisationen
Psychologische Sicherheit ist keine „weiche“ Dimension der Unternehmenskultur, sondern ein zentraler Gesundheitsfaktor – messbar, trainierbar und wirtschaftlich relevant.
Sie ist die Brücke zwischen Diversity und Gesundheit: Nur wer sich sicher fühlt, kann sich zeigen. Nur wer sich zeigen darf, kann sich entwickeln. Und nur wo Entwicklung möglich ist, entsteht nachhaltige Gesundheit.
Für das BGM bedeutet das: Gesundheit muss nicht nur physisch, sondern auch psychosozial gedacht werden.
Ein Unternehmen, das psychologische Sicherheit lebt, schafft ein Klima der Zugehörigkeit, in dem Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern als Stärke erlebt wird.
Denn:
Sicherheit ist die Basis für Vertrauen – und Vertrauen ist die Basis für Gesundheit.